In 8 Monaten wählt Sachsen - mögen die Rechenspiele beginnen

Am 24. September 2017 gaben in Sachsen 669.940 Wählerinnen und Wähler der Alternative für Deutschland ihre Stimme. Mit diesem 27-Prozent-Ergebnis wurde die AfD noch vor der CDU mit 26,9 Prozent die stärkste Kraft im Freistaat. Kurze Zeit später trat als Konsequenz aus dieser verheerenden Niederlage, bei der die Union fast 16 Prozentpunkt gegenüber dem Vorwahlergebnis eingebüßt hatte, Stanislaw Tillich vom Amt des Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden der sächsischen Union zurück. Er übergab beide Ämter dem Generalsekretär der Sachsen-CDU, Michael Kretschmer. 

Kretschmer hat bis zur Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 noch genau acht Monate Zeit. Dann stimmen die Sachsen über seine Politik ab und könnten eine besondere politische Situation wählen.  


Vier Entwicklungen bilden die Ausgangspunkte dieser besonderen Situation: erstens wird die CDU mit großer Wahrscheinlichkeit, so wie auch die CSU in Bayern und die CDU in Hessen ca. 10 Prozentpunkte gegenüber ihrem Vorwahlergebnis von 2014 einbüßen. Dies belegen auch die Umfragen seit August 2018, die die CDU alle bei 28 bis 30 Prozent verorten. Vor fünf Jahren hatte sie noch 39,4 Prozent erhalten - ein Wert, von dem heute niemand mehr zu träumen wagt. Zwar dämpft das die Erwartungen der CDU-Mitglieder, aber es schwebt auch wie ein Damoklesschwert über Ministerpräsident Kretschmer. Ggf. überlebt er diese Wahlniederlage nicht. Nicht jeder Politiker schafft es, sich wie Volker Bouffier vor die Kameras zu stellen und sich zu freuen, dass man lediglich 10 Prozentpunkte verloren habe, einen die Umfragen aber noch schlechter abschneiden sahen und das Ergebnis daher erfreulich sei - und das Ganze politisch zu überleben. 

Zweitens wird die CDU an ihrem Credo nicht mit der Linkspartei zu koalieren festhalten. Allen Denkanstößen von Daniel Günther in diese Richtung erteilten die sächsischen Amts- und Funktionsträger 2018 deutliche Absagen. Die Abscheu vor der SED-Nachfolgepartei ist in der sächsischen Union tief verwurzelt. Landtagspräsident Rößler ist sich sicher: "Wer eine Koalition mit den Linken eingeht, zerreißt die sächsische Union" (ZEIT). Dieses kategorische Nein der Sachsen-CDU zu einer Koalition mit der Linkspartei, die bei der letzten Landtagswahl fast 19 Prozent der Wähler*innenstimmen erhielt und derzeit in den Umfragen stabil bei 18 Prozent steht, schränkt die politische Bewegungsfreiheit für alle Parteien stark ein. 

Drittens kämpft die SPD in Sachsen 2019 nicht mit der LINKEN und der AfD um Platz 2, sondern mit den Grünen um Platz 4. Beide stehen derzeit bei ca. 10 Prozent. Seit der Landtagswahl 1999 erhielten die Sozialdemokraten nie mehr als 12,4 Prozentpunkte (2014) und die jüngsten Umfragen machen ein Ergebnis von 10 Prozent plausibel. Die Sozialdemokraten konnten sich durch eine klare Abgrenzung zur Politik der SPD in der Groko bisher vom Negativtrend auf Bundesebene abkoppeln. Anders als in Hessen ist es also nicht zu erwarten, dass der kleinere Koalitionspartner in der Gunst der Wähler*innen stark zulegt und somit die Koalition im Ganzen rettet. Die Grünen lieferten in den vergangenen Jahren - auch gegen die SPD - solide Oppositionsarbeit ab, scheuten nicht vor der eigenen personeller Erneuerung und profitieren aktuell vom Bundestrend. Ob er sie bis September tragen und vor die SPD katapultieren wird bleibt abzuwarten. Die Grünen könnten auch diejenigen sein, die der Union inhaltlich am meisten abverlangen, bis sie sich in einer Dreier- oder Viererkoalition begeben. Erbittert tobt zwischen Grünen und CDU in Sachsen der Streit um den Kohleausstieg, das Polizeigesetz und den Wolf. Schon 2014 stellten die Grünen nach den Sondierungen mit der Union fest, dass diese nicht bereit war in wichtigen Kernbereichen Kompromisse zu machen. 

Viertens liegt die AfD seit Oktober 2016 in allen Umfragen in Sachsen oberhalb von 20 Prozent. Trotz des Austritts der ehemaligen Parteivorsitzenden Frauke Petry, lag die AfD in den letzten Umfragen sogar bei 25 Prozent. "Die blaue Partei" Petrys scheint für die AfD ebenso wenig eine Konkurrenz zu sein, wie die NPD, die 2014 mit 4,9 Prozent nur knapp den Einzug in den Landtag verpasst hatte. Inzwischen stehen die Nazis in den Umfragen bei rund einem Prozent. Die AfD in Sachsen ist das Auffangbecken für alle Strömungen und Wählergruppen am rechten Rand: von NDP über Identitären bis hin zu Republikanern. 


Problematisch ist die Stärke der AfD nicht nur für das politische Klima im Freistaat, die politische Streitkultur und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern sie stellt die sächsische Union vor die politische Gretchenfrage schlechthin: wie hältst du es mit der Koalition? Zwar hat die Bundes-CDU auf ihrem Parteitag Anfang Dezember den Beschluss gefasst weder mit der LINKEN noch mit der AfD zu koalieren, doch wie stark sich die Landesverbände daran gebunden fühlen machte kurz darauf der Vorsitzende der CDU-Brandenburg, Ingo Senftleben, klar: "Wir werden nach der Landtagswahl mit jeder ins Parlament gewählten Partei Gespräche führen" (Spiegel). Die Sachsen-CDU steht der Gretchenfrage gespalten gegenüber: im einen Lager stehen Fraktionschef Hartmann und Landtagspräsident Rößler, die sich eine Koalition mit der AfD durchaus vorstellen können und zu Koalitionsverhandlungen bereit sind. Der CDU-Fraktionschef im sächsischen Landtag, Christian Hartmann, hatte nach seiner Wahl die Frage nach einer möglichen Koalition mit der AfD vielsagend offen gelassen. In einem Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk sagte er auf die Frage nach einem klaren Nein zu einer Zusammenarbeit: „Das werden Sie von mir jetzt in der Form auch nicht hören – das gebietet schon der Respekt vor den Wählerinnen und Wählern, die in diesem Land am 1. September 2019 entscheiden.“ Auf dieser Seite stehen neben Rößler auch viele Basismitglieder der CDU, die wissen, dass viele AfD-Mitglieder und Wähler früher bei der Union waren. Sie fragen sich: Kann man die nicht endgültig entzaubern, wenn man sie mitregieren lässt? Kann man die in einer Koalition nicht am besten klein machen, so wie das die CDU bisher mit allen ihren Koalitionspartnern gemacht hat? Ist das nicht besser als Kenia oder eine Dreierbündnis mit SPD und FDP? 

Auf der anderen Seite stehen der Ministerpräsident Kretschmer, der Generalsekretär Alexander Dierks und CDU-Chefin Kramp-Karenbauer. Ob ersterer den Ton angibt bei der Frage, mit wem Koalitionsgespräch geführt werden, wenn die Union 10 Prozentpunkte verliert und als Alternative zu Sondierungen mit der AfD nur Gespräche mit SPD (9-11 Prozent) und Grünen (7-10 Prozent) und/oder FDP (5-7 Prozent) möglich sind, erscheint fraglich. Dass auf Ermahnungen von Kramp-Karenbauer, die einer Koalition mit der AfD in Sachsen bereits eine klare Absage erteilt hat, bei der Union im Freistaat jemand hört, glaubt wahrscheinlich nur Generalsekretär Dierks.

Taktisch gesehen befindet sich die Union in einer Zwickmühle: Sondiert sie mit der AfD nicht, dann wäre sie zur Koalition mit SPD, Grünen und/oder FDP gezwungen, politisch erpressbar und müsste diesen Koalitionspartnern wohl größere Zugeständnisse machen. Sind die Zugeständnisse zu groß, dann droht sie in einer solchen Koalition unter die Räder zu kommen. 

Startet sie Sondierungen mit der AfD, dann bricht sie offen mit der Bundes-CDU, etabliert die AfD und macht ggf. weitere Sondierungen mit anderen Parteien unmöglich. In beiden Fällen müsste sie bei der Basis und in der Öffentlichkeit hart um die gefundenen Kompromisse und den Koalitionsvertrag werben. Beide Bündnisse (Schwarz-Blau oder Schwarz-Rot-Grün und/oder Gelb) wären für die Union kein Garant über fünf Jahre hinweg stabil regieren zu können. Im Gegenteil: die Angst vor Neuwahlen wäre für alle Beteiligten ein ständiger Begleiter. Dass sie kein schlechter Begleiter sein muss, sondern auch zur effektiven Zusammenarbeit und zur gezielten internen Konfliktbeilegung animiert, zeigt sich beim Kenia-Bündnis in Sachsen-Anhalt wie auch beim Jamaika-Bündnis in Schleswig-Holstein. 


Die Antwort der Union in Sachsen auf die politische Gretchenfrage zur Koalition mit der AfD ist für die Entwicklung der AfD von entscheidender Bedeutung. Ermöglicht die CDU der AfD die Mitregierung hat die Bewegung eines ihrer wichtigsten Etappenziele erreicht, denn dann hat sie formalen Einfluss auf politische Entscheidungen, besitzt die Chance Veränderungen in ihrem Sinne voranzubringen und ihre Amts- und Funktionsträger verfügen über exekutive Ressourcen zur Darstellung ihrer Politik. Eine Regierungsbeteiligung in Sachsen ist das erklärte Ziel der AfD-Führung. Von der Hochburg Sachsen aus sollen auch Regierungsbeteiligungen in den anderen ostdeutschen Bundesländer ermöglicht werden. Erteilt die CDU in Sachsen der AfD eine Absage und bildet eine Dreier- oder gar eine Vierer-Koalition, dann ist dieses Bündnis aus Sicht der AfD zwar leicht als "Altparteien-Bündnis" angreifbar. Die Union hat jedoch die Chance sich in einer solchen Konstellation zu beweisen, wenn es ihr gelingt, über fünf Jahre die politischen Kuchenstücke stets fair zu verteilen und sich zugleich auf Kosten der Partner zu profilieren. 

Die Absage an eine Koalition mit der AfD würde die Rechten zudem weiterhin im Dilemmata der Opposition gefangen halten: sie können den Menschen zwar erzählen das "#AfDwirkt", aber reale Veränderungen im Sinne der AfD stellen sich nicht ein und so hat die Union die Chance Wähler*innen von der AfD zurückzugewinnen. Die CSU hat in diesem Jahr eindrucksvoll bewiesen, dass die Taktik die AfD rechts zu überholen und ihr nach dem Mund zu reden für die Konservativen nicht zum Erfolg, sondern zum Misserfolg führt. 


Die Rechenspiele in Sachsen sind also eröffnet. Bei allen taktischen Erwägungen sollten die politischen Akteure aber nicht die wichtigste Erkenntnis der Wahlkämpfe und Wahlergebnisse 2017 und 2018 vergessen: eine klare Haltung lohnt sich! 

 

 

Bildquelle: pixabay.com/Seaq68

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