Der Deutschen Bahn wurden große Ziele gesetzt. Bis 2030 soll sie im Fernverkehr doppelt so viele Fahrgäste transportieren wie 2019, also 260 Millionen. Sie soll einen möglichst großen Teil des bis 2040 prognostizierten Güterverkehrswachstum bewältigen. Sie soll in der Lage sein Verkehre aufzunehmen, die von der Straße zu ihr hin verlagert werden. Die Bahn soll das Rückgrat der Verkehrswende werden. Um doppelt so viel zu leisten, muss sie sich an vielen Stellen selbst verdoppeln: sie muss mehr Personal einstellen, mehr Gleise sanieren, mehr Strecken elektrifizieren und mehr Züge einsetzen. Viele der künftig notwendigen Züge hat die Deutsche Bahn bereits bei Siemens bestellt und dort in den nächsten Jahren für volle Auftragsbücher gesorgt. Doch international konkurrieren die europäischen Hersteller von Eisenbahnen sowohl miteinander als auch mit Anbietern aus China, Japan und den USA.
Aufgrund der hohen Entwicklungskosten und der starken Fixkostenlastigkeit der Produktion, kann allein der deutsche Markt langfristig ein deutsches Eisenbahnunternehmen nicht so auslasten, dass betriebswirtschaftlich ausreichende Margen möglich wären – gleiches gilt für Frankreich oder Spanien. Das zeigt sich auch daran, dass jahrzehntelang die europäischen Güterbahnen – auch aufgrund finanzieller Engpässe – nur wenig neue Waggons bestellt haben. Jetzt wo die europäische Nachfrage aufgrund der gewünschten Verkehrswende und infolge der überalterten Wagenparks der dringend saniert und erneuert werden muss wieder spürbar anzieht, sind die Kapazitäten der Hersteller in Europa so geschrumpft, dass sie selbst mit relativ kleinen Aufträgen überfordert sind. Für eine langfristige Auslastung der aufzubauenden Kapazitäten für die avisierte Verkehrswende sind neben einem verlässlichen und auskömmlichen Auftragsvolumen der europäischen Eisenbahnen auch Exporte ins Ausland erforderlich.
Gegenüber dem Riesen China Railway Construction Corporation (CRCC) sind aber alle europäischen Anbieter zu klein um im Wettbewerb dauerhaft bestehen zu können. Um es in Zahlen auszudrücken: CRCC hatte schon 2017 einen Umsatz von 30,5 Milliarden Euro. Bei Alstom-Bombardier waren es 2021 lediglich 15,7 Milliarden Euro und bei Siemens sogar nur 8,8 Milliarden. Selbst zusammen wären Alstom-Bombardier und Siemens also noch deutlich kleiner als CRCC. [1]
Wenn Europa im Markt der Hersteller von Zügen, Güterbahnen und Waggons für Personen und Güter auch übermorgen noch eine Rolle spielen will, dann sollten die europäischen Regierungen eine Erfolgsgeschichte aus dem Bereich der Rüstungskooperation im Eisenbahn-Bereich weitererzählen. Deutschland, Polen, Frankreich, Spanien und Großbritannien sollten gemeinsam eine EADS für die Eisenbahn schmieden. Die Idee: Statt jeweils national komplette Züge und Zugsysteme zu bauen und im internationalen Wettbewerb anzubieten spezialisieren sich die nationalen Herstellerfirmen jeweils auf die Produktion bestimmter Komponenten; das fertige Gesamtprodukt Europa-Zug wird dann international als Joint-Venture von erfahrenen und innovativen Hightech-Unternehmen vermarktet. Ein solcher europäischer Technologie-Champion würde auch im internationalen Wettbewerb bestehen, da im europäischen Heimatmarkt ausreichend Stückzahlen garantiert wären, um Skaleneffekte zu realisieren.
Und noch einen Vorteil könnte ein solcher Zusammenschluss haben: wenn der Europa-Zug von europäischen Regierungen eingekauft und in vielen Staaten der EU eingesetzt wird, könnte er wesentlich zur Vereinheitlichung der Bahn- und Zugsysteme innerhalb Europas beitragen. Ein Ankerunternehmen hätte einen viel stärkeren Anreiz aber zugleich auch die Möglichkeiten dazu einheitliche Standards zu setzen. Fahrer könnten einheitlich geschult, Wartungen koordiniert durchgeführt, Ersatzteile in großen Stückzahlen produziert werden – einige Grenzen, die wir in Europas Zugverkehr noch immer haben ließen sich durch das Bahn-EADS überwinden. Gelingt das Projekt, so könnten an verschiedenen europäischen Standorten viele tausend Industriearbeitsplätze geschaffen und langfristig gesichert werden. Die stärkere Konzentration der Hersteller führt doch zu höheren Preisen und geringeren Wettbewerbsanreizen – so denkt sicher der ein oder die andere jetzt. Allerdings gilt dies aufgrund des starken internationalen Wettbewerbs nur eingeschränkt. So zeigt auch Krugmans Modell des intraindustriellen Handels [2], dass verstärkter Handel zwar zu einer Konsolidierung führt, aber dass durch starke Skaleneffekte und das Vorhandensein der internationalen Konkurrenz dennoch der Nutzen auch für die Kund*innen steigt. Ergänzend zu dieser Konsolidierung auf Herstellerseite sollte auch eine stärkere Vereinigung der europäischen Eisenbahnen angestrebt werden, so dass auch ihre Marktmacht wachsen würde.
Und einen dritten Vorteil hätten ein europäisches Bahn-EADS: Wenn wir uns weiterhin so abhängig von Ersatzteillieferungen von CRCC machen, dann ließe sich im politischen Konfliktfall der europäische Bahnverkehr stark beeinträchtigen, indem China seine Lieferungen verzögert oder einstellt. Ein Bahn-EADS würde also auch unsere Abhängigkeit von Importen aus Autokratien und unsere Vulnerabilität aufgrund globale Lieferketten reduzieren. Wir könnten somit auch unsere Unabhängigkeit stärken und unsere kritische Infrastruktur schützen.
Mit einem Bahn-EADS wäre die Zukunft der nationalen Eisenbahn-Hersteller gesichert und ihnen würde nicht länger das Schicksal einige Straßenbahn- oder Bus-Unternehmen drohen, die von der Konkurrenz aus Fernost regelmäßig ausgestochen oder zum Teil aufgekauft wurden. Für die Verkehrswende mit der Bahn als Rückgrat braucht es international wettbewerbsfähige Hersteller moderner, digitaler, klimafreundlicher, barrierefreier Züge und Waggons von höchster Qualität, die pünktlich und verlässlich in hohen Stückzahlen liefern können. Ein Bahn-EADS könnte absichern, dass diese Hersteller aus Europa kommen und wir nicht irgendwann nach den E-Bussen auch die neuesten Züge in Fernost bestellen müssen. Um ein solches Mamut-Projekt zum Erfolg zu führen, sollte die Bundesregierung jetzt mit der diplomatischen Arbeit beginnen, auf die europäischen Partner zugehen und so die europäische Eisenbahn-Industrie langfristig stärken. Sie ist eine wichtige Grundlage für die erfolgreiche Verkehrswende.
Christian Storch & Jacob Spanke
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Ralph Müller (Sonntag, 19 Februar 2023 09:55)
Bereits vor über 20 Jahren war mit dem Projekt "High-Speed-Train Europe" ähnliches geplant gewesen: Einen "Railbus" in Analogie zum Airbus zu schaffen aufgrund gemeinsamer Anforderungen der Bahnen Frankreichs, Italiens und Deutschlands (SNCF, FS, DB). Das Projekt war nicht erfolgreich, die Gründe liegen (auch) in der Unterschiedlichkeit der Infrastruktur. Zwar sorgen die TSIen der EU seit ebenfalls rund 20 Jahren dafür, dass es für Neubauvorhaben gemeinsame Anforderungen (ein "Zielsystem") gibt, doch die Herausforderung besteht weniger darin, gemeinsame Anforderungen zu finden, sondern in der Finanzierung deren Umsetzung. Bestes und prominentes Beispiel: ETCS: In den 1980er Jahren konzeptionell entwickelt, floppt die Einführung seit Jahrzehnten. Und selbst heute wird ETCS in allen Ländern immer noch nach nationalen Regeln geplant und implementiert. Ein wesentlicher Grund für national unterschiedliche Betriebsregeln, die durch ETCS nicht vereinheitlicht, sondern in ihren Unterschieden noch manifestiert werden. Die Vereinheitlichung muss also bei der Infrastruktur anfangen, dann folgen die Fahrzeuge "automatisch". Dann werden auch EU-Großserien möglich, wie bereits heute schon bei Mehrsystemlokomotiven (etwa dem Vectron von Siemens). Denn es gibt Infrastrukturunterschiede, die fahrzeugseitig mit vergleichsweise geringem Aufwand gelöst werden können, und solche, die nur mit erheblichem Aufwand oder gar nicht lösbar sind. Ein Beispiel eines TSI-Versagens: Die Bahnsteighöhe. Für ein EU-Zielsystem wäre EINE Höhe EU-weit erforderlich. Als die TSI PRM entstand, die diesen "basic parameter" definiert, war Politik statt Technik am Zug: Frankreich und Schweiz hatten 550 mm, Deutschland 760 mm als nationales Zielsystem bereits definiert. Man hätte besser eine Münze geworfen oder eine völlig neue Höhe festgelegt als das gemacht, was dann folgte: BEIDE Höhen wurden in die TSI als Zielsystem aufgenommen. Da in Deutschland der Schildbürgerstreich der Regionalisierung bereits gestartet war mit 27 individuell profilierungssüchtigen Aufgabenträgern, war es dann auch bald vorbei mit dem Zielsystem 760 mm in Deutschland. Obwohl im Bundesgesetz festgeschrieben, brachen einzelne Länder das Gesetz (folgenlos für diese) und begannen, 550 mm Bahnsteige zu bauen. In Belgien gibt es Doppelstockwagen mit zwei nebeneinanderliegenden Einstiegstüren auf unterschiedlicher Höhe. An Kuriositäten zur Herstellung von Barrierefreiheit bei unterschiedlichen Bahnsteighöhen besteht kein Mangel.
Hier gilt es also anzusetzen: Massive Investitionen in die Vereinheitlichung der Bahn-Infrastruktur EU-weit und dann folgen auch die Züge einheitlich in großer Serie. Ob diese von Konsortien, großen Herstellern oder gar von Bahnen wie in Indien (oder früher in UK) gebaut werden, ist dann nicht mehr entscheidend, wenn die Systemführung für solche Züge bei großen Bahnen (einer EU-Bahn) liegt. Aufgrund der Volatilität der Hersteller erscheint die Systemführung durch Bahnen zum Schutz der staatlichen Investitionen alternativlos. Auch wenn dieses Wort eher negativ belegt ist. Dass Siemens Züge baut, folgt keinem Naturgesetz. So wie es kein Naturgesetz ist, dass Siemens keine Telefone, Haushaltsgeräte, Halbleiter und Kraftwerke mehr baut. Dass Eisenbahnen Eisenbahnen bauen und betreiben, kommt einem Naturgesetz schon näher...