Social Media in Koalitionsverhandlungen - was man aus dem #JamaikaAbbruch lernen kann

 

Die Jamaika-Sondierungen waren die ersten vollständig digital begleiteten Verhandlungen zur Bildung einer neuen Bundesregierung in Deutschland. Die für interessierte Beobachter, Parteimitglieder und die Öffentlichkeit erfreuliche Transparenz der Gespräche durch die Begleitung in den digitalen Medien durch Verhandler zeigte jedoch deutliche Schattenseiten. Dabei lohnt der Blick auf das, was Union und SPD für ihre anstehenden Sondierungen aus der erfolgten Social Media-Kommunikation ableiten können.

  

Alle an Jamaika beteiligten Parteien und ihre Akteure twitterten, stellten Videobotschaften ins Netz oder posteten Zwischenergebnisse der Verhandlungen. Politiker und Parteiführungen wollten Klientel und Mitglieder über den Fortgang der Verhandlungen und ihre Verhandlungserfolge transparent informieren, sich bei ihnen als konsequente Anwälte bestimmter Ziele profilieren und auch die Koalitionsverhandlungen – denn es waren von Anfang an keine gewöhnlichen Sondierungsgespräche – im digitalen Raum fortsetzen und flankieren. Angetrieben vom Wunsch, den eigenen politischen Beitrag herauszustellen, entstanden daraus Probleme, die erst später deutlich zutage traten.

 

Der eigene Anspruch an Transparenz und der Wunsch, die Verhandlungen für die eigene Profilierung zu nutzen, führten dazu, dass zuerst die digitale Community, dann die gesamte Mitgliedschaft und schließlich alle Klientelgruppen der jeweiligen Parteien massiven öffentlichen Druck auf die Verhandlungsgruppen ausübten – die Kompromissfähigkeit der verhandelnden Parteien sank. Immer neue Kompromisse hätten sie hinter bereits kommunizierte Verhandlungserfolge zurückfallen lassen. Der Vorwurf ‚einzuknicken‘ stand sofort im Raum. Darüber hinaus schlug dies auch auf der jeweiligen Gegenseite durch: Die umfangreichen digitalen Äußerungen zu bestimmten Verhandlungsständen wurden als Indiskretionen, Halbwahrheiten und subtiler Druck empfunden, was den Aufbau von Vertrauen erschwerte.

 

Druck von parteiinternen und parteiexternen Interessengruppen hat es auch in Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen nach früheren Bundestagswahlen gegeben, allerdings keinen in dieser Art öffentlichen. Denn die Unterhändler der Parteien bezogen ihre digitale Community – sofern bereits vorhanden – nicht so aktiv und direkt in die Gespräche ein. Es konnte freier verhandelt werden, die Unterhändler standen nicht unter permanenter, selbst geschaffener Beobachtung ihrer Klientel. Die jüngsten Jamaika-Sondierungen hingegen wurden plakativ im digitalen Bereich weitergeführt und standen den Unterhändlern erst einengend und schließlich blockierend im Weg. 

Wie stark diese Selbstblockade wurde, konnte man gut beim Thema „Soli abschaffen“ beobachten. Diese Forderung hatte die FDP zum zentralen Projekt ihrer Verhandlungen erhoben, sie tauchte bereits im ersten Papier zu Steuern und Finanzen auf, das via Twitter schnell verbreitet wurde. Die Liberalen interpretierten – etwas vorschnell – dass der Soli durch Jamaika zeitnah abgeschafft würde und verkündeten die frohe Botschaft auf allen Kanälen. Der Widerspruch der anderen Verhandlungspartner war provoziert, umgehend wurde der vermeintliche Verhandlungserfolg der Liberalen in Frage gestellt. Es folgte starker Druck der digitalen Anhängerschaft und der FDP-Mitglieder auf die Verhandlungsgruppe, die FDP-Position konsequent zu verteidigen. Ein Kompromiss wäre zu diesem Zeitpunkt mit Gesichtsverlust verbunden gewesen, folglich widersprach die FDP-Verhandlungsgruppe immer wieder den Einigungen zum Thema Soli und positionierte sich via Social Media als energischer Anwalt der politischen Ziele der Liberalen.

 

Noch am 19. November, an dem die Sondierungen abgebrochen werden sollten, twitterte Nicola Beer:

Hiermit widersprach sie klar einer Einigung bei der Abschaffung des Solidaritätszuschlags bis 2021, obwohl diese bereits als Teil des Gesamtpaketes auf dem Verhandlungstisch lag.

 

Maß halten – Social Media gezielt einsetzen, aber nicht in die Transparenzfalle laufen

 

Union und SPD werden zeitnah in Verhandlungen über die Rahmenbedingungen für die Fortsetzung der Großen Koalition eintreten. Für beide lassen sich aus den Jamaika-Erfahrungen im Bereich Social Media Lehren ziehen.

 

Fünf Learnings für eine effektive Einbettung der Social Media-Instrumente in die Strategie zur Kommunikation rund um die Groko-Sondierungen:

  

  1. Die Gesamtstrategie des Stakeholdermanagements schon jetzt erarbeiten. Wie die Verhandlungen selbst benötigt Social Media-Kommunikation mit der eigenen Mitgliedschaft oder gegenüber bestimmter Klientel eine möglichst trennscharfe Rollenaufteilung und echtes Teamwork.
  2. Von den Grünen lernen: Die Mitgliedschaft muss nicht täglich über alle Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werden. Video-Statements einmal, ggf. mehrmals wöchentlich nehmen die eigene Klientel ebenso mit. Den Anspruch, durch transparente Kommunikation Konflikte innerhalb der eigenen Partei aufzulösen, sollte man aufgeben.
  3. Von der FDP lernen: Vorbereitung ist fast alles. Das gilt auch für Social Media. Hier gilt es, sich auf unterschiedliche Entwicklungen und Taktiken der Gegenseite vorzubereiten. Zu dieser gehören dabei nicht nur Verhandlungspartner, sondern auch Oppositionsparteien. Wer Meme, Sharepics und Statements bereits in der Schublade hat, kann agieren – den Anderen bleibt die Reaktion.
  4. Von einigen Verhandlungsführern: In gewissen Verhandlungsphasen ist es sinnvoll, das Mobiltelefon wegzulegen und miteinander zu reden als übereinander zu twittern. Außerdem gilt es, ausgehandelte Kompromisse auszuhalten und sich nicht von den eigenen Verhandlungsergebnissen zu distanzieren, um von bestimmter Klientel Lob zu ernten oder der Kritik der Mitgliedschaft auszuweichen.
  5.  Ergebnisse gemeinsam verkünden, wenn es Ergebnisse sind: Zwischenstände der Verhandlungen als eigenen Verhandlungserfolg und vorzeitig als gemeinsames Ergebnis zu deklarieren schadet mittelfristig mehr, als es kurzfristig nützt. Auf einige Likes und Shares sollte man als seriöser Verhandlungspartner verzichten können, bis alle Beteiligten hinter einem Ergebnis stehen. Idealerweise stimmt man die Kommunikation zu den Ergebnissen in der eigenen Verhandlungsgruppe ab und spricht dann in den sozialen Medien mit einer Stimme.

100 Prozent Transparenz? Nein, danke!

 

Politik muss nicht immer 100 Prozent transparent sein. Die eigene Kommunikation in schwierigen Phasen – und dazu gehören Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen definitiv – zu planen, gezielt zu steuern und sich nicht von äußeren Einflüssen beeinflussen zu lassen, gilt auch und gerade unter den Bedingungen von Social Media als grundsätzlich erfolgsrelevant .

 

Auch in anderen Verhandlungen, die von Vertraulichkeit leben, hängt der Erfolg von geplanter Begleitkommunikation auf allen relevanten Kanälen ab. Von zentraler Bedeutung ist es, sich der Transparenzfallen der digitalen Kommunikation bewusst zu sein und genaue Kenntnis über die Informationsbedürfnisse und -Formate der verschiedenen Stakeholder zu haben. Responsivität kann dabei zum Trumpf werden, denn nicht jedem Transparenzanspruch muss man umfassend nachgeben.

 

Wer mit einer ausgewogenen Strategie in der begleitenden Social-Media-Kommunikation agiert, im Zuge der Verhandlungen Maß hält anstatt auf Masse zu setzen und sich taktisch auf verschiedene Szenarien vorbereitet, der wird die sozialen Medien  gewinnbringend nutzen und die Kommunikation von Verhandlungen in seinem Sinne gestalten und würzen können.



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